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Das Neolithikum und mögliche geistige Hintergründe

Neolithische Kunstwerke als Sinnbilder einer Erlösungsphilosophie

Fernab von menschlichen Siedlungen entdecken wir neolithische Funde, die unsere Phantasie inspirieren: Steinringe auf der Halbinsel Sirmione, die tief in den Gardasee hineinragt und den Blick nur noch über See, Sternenhimmel und Berge streifen lässt; Dolmen am Rande der Steilküste der Ostsee; einen Omphalos in den Heiligen Hallen tief im Sebnitzer Wald; Bischeiben gefunden auf den Bergen bei Nebra…

Schriftliche Zeugnisse aus der Zeit des Neolithikums gibt es nicht. Aber man könnte einen neuen Ansatz finden, um diese Zeugnisse zu deuten. Die alten religiös-philosophischen Schriften der Inder, die Veden, können nach astronomischen Bezügen wie z.B. einer Sonnenfinsternis in die Zeit von 3900 V.Chr. datiert werden. Damit gehören diese Werke in die Epoche des späten Neolithikum (4000 – 2000 v. Chr.). Mythologische und geistige Bezüge der indischen und altorientalischen Philosophie und ihre Nachfolger, die lebende hinduistische und buddhistische Religion, sollen hier herangezogen werden, um die neolithische Kunst zu erklären und mögliche geistige Hintergründe aufzuzeigen.

 

Menhire – Omphalos – Lingam

Im Neolithikum wurden längliche Steine in verschiedenen Größen aufgestellt und an exponierten Stellen oder in Gräbern hinterlegt.

Menhir vom Champ-Dolent, ca. 9,5 m hoch;    
bei Dol-de-Bretagne (Ille-et-Vilaine)   

Wenn wir sie heute sehen, sind wir beeindruckt und ahnen, dass ein tieferer Sinn hinter diesen Steinformen steckt.

Die hinduistische Religion fußt auf den Veden und hat sich in ununterbrochener Tradition aus ihr entwickelt. Die Hindus verehren noch heute den länglichen Stein als Sinnbild des Gottes Shiva. Shiva, der Gott des Todes, gilt als höchste Manifestation des Einen, da sich beim Tod das Materielle und Individuelle wieder im All-Einen auflöst. Der Stein des Shiva wird als Lingam bezeichnet und als solcher verehrt. Unter anderem werden Lingam-förmige Eisblöcke in Höhlen des Himalayas angebetet. Eis gilt als unbewegte und unentfaltete Materie im Gegensatz zum fließenden, gestaltenden Wasser.


Eis-Lingam, verehrt in einer Höhle in Pakistan, zeitgenössisch

Auch im alten Griechenland, in das bekanntlich über die Seidenstraße orientalische Vorstellungen einwanderten, waren ovale Steine Heiligtümer: z.B. der Omphalos in Delphi. Das altgriechische Wort Omphalos bedeutet Mitte oder Nabel und galt als Mittelpunkt der Welt. Der Tempel, in dem der Stein steht, war dem Apollon,  dem Todesgott, geweiht. Ein Nabel ist die Schnittstelle zwischen dem Leben der Mutter und dem Leben des Kindes. Der Ruhepunkt zwischen zwei Leben ist in der Seelenwanderung der Tod, ein kleiner Sprung über das Nichts, nachdem sich das Leben wieder entfaltet. (die heilige Silbe Ohm – Anfang bis Ende und griech. Phallos = Pfahl, Pfeiler; griech. Omphalos= Mitte, Nabel, Nabe; Sanskr. Nabhis, Nabel, Nabe, Mitte)

Der Omphalos von Delphi

Shri-Yantra aus dem zeitgenössischen Indien mit Lingam
(Urei, Omphalos) als Weltmitte, aus der die diesseitige Welt entsteht

 

 

Die neolithischen Menhire könnten ein Symbol des Unentfalteten, die in eins gebündelte Kraft des Weltalls bzw. ein Symbol der Unendlichkeit sein. Dieses Symbol wurde an abgelegenen Orten aufgestellt, um zu meditieren und die Erkenntnis des All-Einen zu erringen. Sie könnten den Toten ins Grab gelegt worden sein, um ihnen die Erlösung vom Erdendasein im Unentfalteten zu ermöglichen.

 

 

 

 

 

 

Neolithische Pi-Scheiben


Mên-an-Tol ,3000 bis 4000 Jahre alte Megalithformation in Cornwall in England
Steinring (Symbol der um das transzendente Nichts kreisenden entfalteten Materie)
mit Omphalos im Hintergrund (Symbol des in sich ruhenden Unentfalteten)
Durchmesser mehr als 1 m

Bei archäologischen Ausgrabungen der Jungsteinzeit werden immer wieder Lochscheiben in verschiedenen Größen gefunden. Sie wurden von den Archäologen als Spinnwirtel, Webgewichte oder Keulenköpfe interpretiert. Die Löcher in der Mitte sind meist eieruhrförmig. Die Scheiben sind oft sorgfältig geschliffen und nach oben und unten konvex gekrümmt. Das Material ist unterschiedlich; manchmal bestehen die Lochscheiben aus zweifarbig-marmorierten Steinen, manchmal wurden Muster eingeprägt. Auch in dem neolithischen Bernsteinfund von Litauen wurden Lochscheiben gefunden. Für ein Webgewicht oder als Spinnwirtel eignet sich der leichte Bernstein nicht. Eine Bohrung in Form einer Eieruhr wäre viel zu aufwendig für ein Arbeitsgerät, genau wie der Schönschliff oder ein gewölbter Rand. Die Größe der Bi-Scheibe von Mên-an-Tol in England von mehr als einem Meter Durchmesser schließt die Verwendung als Spinnwirtel aus.


Keulenkopf aus Tein, 6. – 3. Jtsd. V. Chr., Goldschau
(Museum für Ur- und Frühgeschichte Halle)

In China werden ebenso geformte Scheiben, sogenannte Bi-Scheiben, seit dem Neolithikum gefunden und bis heute aus Jade hergestellt. Im alten China waren sie Grabbeigaben. Aus erhaltenen rituellen Texten lässt sich erschließen, dass die Bi-Scheibe die Verbindung zwischen Himmel und Erde, bzw. zwischen Diesseits und Jenseits, Entstandenem und Unentstandenem, Materiellem und Transzendentem symbolisiert.

Die Veden präsentieren folgende dazu passende Vorstellungen:                     

Das menschliche Ich, das individuelle Sein – Atman - gleicht einem Topf. Beim Tod wird der Topf zerschlagen; der Topfraum wird zum im Weltraum. Wer das Brahman - bei Lebzeiten erkennt, ist erlöst. Er erkennt die Wirren der Welt als Illusion und findet die Ruhe der Transzendenz. (Mândûkya-Upanishad)

Die vedische Philosophie beschäftigt sich intensiv mit den Fragen des Seins und der transzententen Realität. Das Brahman, die Allseele der Welt, der Urgrund des Seins, der ewige, unbegrenzte Raum wird als Vorstellung gesetzt. Um dieses Nichts herum entstehen die Spannungen der Welt.

Wer ihn (d.i. Brahman), anfanglos, endlos, in dem Gemenge
als Weltschöpfer vielfach sich gestaltend
den einen, der das Weltall hält umschlossen
Als Gott kennt, wird befreit von allen Banden.

„Wer jenes Höchst-und-Tiefste schaut
dem spaltet sich des Herzens Knoten
dem lösen alle Zweifel sich
und seine Werke werden Nichts.“ Ica-Upanishad

Erkannt werden soll das Transzentende nach altindischen Vorstellen an folgenden Orten:

„Rein sei der Ort und eben, von Geröll und Sand
von Feuer, von Geräusch und Wasserlachen frei,
Hier, wo den Geist nichts stört, das Auge nichts verletzt,
… schicke man sich an….“

An eben solchen Orten wurden Bi-Scheiben gefunden – weitab von menschlichen Siedlungen, auf Bergspitzen, Klippen, auf in den See ragenden Halbinseln. Dort ist man abseits, befreit von häuslichen Arbeiten und Streit; verbunden mit der ursprünglichen Weite der Natur, löst sich vom materiellen Leben in der Betrachtung des grenzenlosen Horizontes, nähert sich der Ewigkeit und Unendlichkeit, findet den Ruhepunkt des Alls. Man findet die innere Ruhe, das gestaltlose Glück.

Gleichwie ein Spiegel, der mit Staub bedeckt war,
wie Feuerschein erglänzt, wenn er gereinigt,
so wird nur, wer erkannt der Seele Wesen,
Des Ziels teilhaftig und befreit vom Kummer.“
  

Eine Neolithische Lochscheibe gefunden an abgelegenen Orten könnte heißen: Hier haben Menschen das ewig kreisende Diesseits und die Transzendenz als Ruhepunkt erkannt. Das Sinnbild und Zeichen für diese Erkenntnis haben sie dort hinterlassen.

 

Dolmen

Poulnabrone Dolmen, Ireland, Neolithikum ca. 4200 -  2900 v.Chr

Megalithische Dolmen bestehen aus Tragsteinen und einer Deckplatte. Sie wurden an einsamen Orten auf Bergen oder mit Ausblick auf das Meer errichtet. Wofür sie vor tausenden Jahren verwendet wurden, weiß niemand mehr. Versuch einer Deutung: Wenn man über die Ewigkeit meditiert, sucht man sich einen abgelegenen ruhigen Platz. Wichtig ist, dass man nicht durch Insekten oder umherstreifende Tiere oder Menschen gestört wird. Deshalb ist ein hoch gelegener Sitz von Vorteil. In Tibet suchen die Meditierenden Höhlen oder Felsensitze auf, die sie nur mit Leitern erklimmen können. Die Leitern werden während der Meditation hochgezogen, so dass der Meditierende praktisch unerreichbar ist. Diesem Zweck könnten Dolme gedient haben. Der Raum unter der Deckplatte könnte als Unterschlupf bei Regen gedient haben oder die Mediation erfolgte stufenweise: Erdmeditation unten und Ewigkeitsmeditation oben auf dem Stein.

 

 

Versuch einer Deutung der Schalensteine

Schalensteine findet man in ganz Europa. In große Felsblöcke bei Megalithbauten wurden unregelmäßige kleine Schalen eingearbeitet. Sie befinden sich nicht nur in waagerechter, sondern auch in senkrechter Lage. Die Anzahl der Schälchen variiert zwischen vier und über hundert. Ihre Entstehung kann zeitlich nicht genau bestimmt werden, sie werden aber von den Archäologen unter die megalithischen Monumente gerechnet (Wikipedia Schalenstein).

Im Buddhismus werden heute noch vom Dalai Lama Einführungen in die Mediationspraxis z.B. des Kalachakra durchgeführt. Das sind philosophische Betrachtungen über die Vergänglichkeit der Welt und die alles verschlingende Zeit. Am Ende des Rituals erhält jeder Teilnehmer einen roten Faden. Dieser ist eine Art Amulett, das die Erinnerung an die gewonnene Erkenntnis stets lebendig halten soll. In Tibet wurden Schalensteine bei Klöstern gefunden (Mahlstein, Die religiöse Welt der Jungsteinzeit). Es wäre möglich, das Teilnehmer von neolithischen Erkenntnis-Ritualen den Abschlag eines heiligen Steines als Talisman erhalten haben. Das würde die differierende Anzahl der Schälchen, den Abschlag in der Senkrechten und die Fundorte erklären.

                                                                 


Schalenstein im Sachsenwald

 

Das neolithische Steinbeil und der geschliffenen Stein-Keil



Jadeitbeil von Laterza (Pugila, Italien), Jungsteinzeit,
5.-4. Jtsd. V. Chr., Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz

 

Eine oft gefundene Beigabe in neolithischen Gräbern sind Steinbeile und Steinkeile. Sie sind sorgfältig geschliffen und haben Formen, die sich nicht zum Arbeiten eignen: die Schneiden oder Spitzen sind stumpf, das Material ist kostbar (Jade und Amphibolith, das von weither geholt werden musste), sie zeigen selten Gebrauchsspuren.

Es ist anzunehmen, dass diese Gegenstände eine kultisch-religiöse Bedeutung hatten. Hier der Versuch einer Deutung aus lebenden Religionen:

Der tibetische Buddhismus ist ein Ableger des Hinduismus und der Nachfolger der uralten Bön-Religion. Die tibetischen Götter tragen Waffen und Attribute, deren Deutung lebt und bekannt ist (Beer, Die Symbole des Tibetischen Buddhismus). Die Axt oder das Beil als religiös-philosophisches Symbol trennt die Anhaftungen des Menschen an die Dinge des Lebens und befreit von negativen Vorstellungen, die ihn fesseln. Sie durchschneidet die Bindung an den ewigen Kreislauf der Geburten und macht ihn frei für das ungestaltete Ewige. Als Grabbeigabe macht eine kultische Axt im Neolithikum also durchaus Sinn.

Der neolithische „Schuhleistenkeil“ oder Dechsel könnte seine Entsprechung im buddhistischen Ritualdolch haben, dessen Symbolik schon in den Veden als Waffe Indras belegt ist.

Der Phurba oder Vajrakila ist von dem Wort Kila: „Nagel oder Dorn“ bzw. Phurpa: „Stock, Haltpflock für Opfertiere“ abgeleitet.


Phurba, zeitgenössisch Nepal

Der Phurba wird in Ritualen verwendet, um die Geistesgifte Hass, Gier und Unwissenheit festzunageln oder zu zerstören, die den Menschen an der universellen Erkenntnis des Weltalls hindern. In vedischer Zeit benutzte man einen Keil, um die Erdschlange, ein Symbol der ewig kreisenden Wünsche, festzunageln und an diesem Ort einen Altar zur Verehrung der Götter zu errichten.

Die neolithische Grabbeigabe eines sorgfältig geschliffenen Keiles aus kostbarem Gestein könnte also bedeuten, dass man den Verstorbenen mit den Wünschen begräbt, er möge seine schmerzhaften Anhaftungen und Vernetzungen in der diesseitigen Welt festnageln und seine Seele könne befreit im Transzententen schweifen. („Schuhleistenkeile kommen … als Grabbeigabe in bandkeramischen Körpergräbern vor…“. Wikipedia)


Neolithisches Walzenbeil, gefunden auf Gotland, Schweden

 

Seit Jahrtausenden rätseln die Philosophen über den Sinn des Daseins, den Tod und das Glück. Die Menschen leiden unter den Spannungen und Wirrnissen des Lebens, unter ihren unerfüllten Wünschen, unter dem Tod ihrer Angehörigen. In den Kunstwerken des Neolithikums und in der vedischen Weltanschauung begegnen wir einer Erlösungsphilosophie, die uns sagen will: geht in die Einsamkeit, betrachtet die größeren Zusammenhänge des Weltalls, erkennt den Tod als einen Ruhepunkt im Weltenkreislauf, zerschneidet die Anhaftungen an die weltlichen Dinge und richtet euer Auge auf die Unendlichkeit. Sammelt die Kraft in euch selbst und werdet Zuschauer. So werdet ihr Ruhe und Glück finden.

 

© Antje Riederer, Sebnitz, 01.03.2018